Zwei Raben:

Oberhessen und die Literatur

Landgrafschaft Hessen um 1450

Der Dichter Rilke und der Maler Ubbelohde, die einander zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Oberhessen so knapp verfehlt haben, sind sich doch begegnet, nämlich im Geist ihrer Zeit. Wie vielen anderen war ihnen, in einer Gegenbewegung zur Entstehung der modernen Großstadt, die oberhessische Landschaft, auf gänzlich andere Weise als den Romantikern, wieder zum Sehnsuchtsort eines anderen Lebens geworden. Wo aber liegt dieser Sehnsuchtsort? Wo liegt Oberhessen?

Es ist kompliziert. Als sich die Landgrafschaft Hessen im 13. Jahrhundert bildete, bestand sie aus zwei Gebieten, einem um Kassel im Norden, und einem um die chattisch-fränkische Amöneburg im Süden, dazwischen die Wasserscheide von Rhein und Weser. Der nördliche Teil wurde als Niederhessen, der südliche als Oberhessen bezeichnet. Dieses Land an der Lahn, wie man es auch nannte, umfaßte das Gebiet von Biedenkopf im Westen bis Frankenberg im Norden, Alsfeld im Osten und Gießen im Süden. Als im 17. Jahrhundert die Landgrafschaft endgültig geteilt wurde, gab es Oberhessen fortan doppelt , einmal als südliche Region der Landgrafschaft Hessen-Kassel und einmal als nördliche Region der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Erstere verschwand mit dem Übergang an Preußen 1855, zweitere mit der Auflösung der Provinialverwaltung 1936.

Zwar kann man mitunter noch an einem alten Bahnhof i. Oberh. als Zusatz zum Ortsnamen erkennen, doch verstärkt die durchscheinende Schrift nur den leicht geisterhaften Charakter dieser Bezeichnung, dem die Bestimmtheit anderer Regionenbezeichnungen abgeht. Um so mehr lädt dieser kulturelle Raum zu seiner Erkundung ein.

Traditionell von Fachwerk, kleinteiliger Landwirtschaft und zersplitterten Grundherrschaften geprägt, knapp außerhalb des römischen Limes auf vulkanischen Böden gelegen, waldreich und hügelig vom Kellerwald bis zum basaltisch-grauen Vogelsberg, ist Oberhessen eine Region, wie geschaffen für literarische Expeditionen und Selbstbefragungen.

Ich fange noch einmal von vorn an. Das Dorf steht auf einem Basaltfelsen. Noch als Zehnjähriger hast Du dort jede einzelne Milchkuh, jedes Wetter und jeden mageren müden Zugochsen gekannt. Wo denn anfangen? Keine Kuh wird mit seitwärts gewandtem Kopf mehr als drei Schritte vorwärts schreiten. Ein oberhessisches Dorf, in dem ich von meinem dritten bis zu meinem vierunddeißigsten Jahr gelebt habe. So setzt Peter Kurzecks Roman Kein Frühling ein. Kurzeck, 1943 im Sudetenland geboren, kommt als Flüchtlingskind nach Staufenberg bei Gießen, und sein ganzes literarisches Werk kreist um die Frage, was Heimat sein soll und wie man sie beschreiben kann.

Und auch Rainer Maria Rilke läßt diese ungreifbare Landschaft nicht los. Ich kann mir heuer, schreibt er etwa 1909 aus Paris, das liebe hessische Land, weiß Gott warum, ganz besonders deutlich einbilden: es ist eine Art Sehnsucht in mir nach seiner einfach soliden Sommerlichkeit, nach gewissen Wegen am Waldrand, nach manchen Plätzen im Friedelhauser Park, nach der schönen brückenhaft eingehängten Chaussee an des Schinderhannes Eiche vorbei; nach einem Sonntag an der Nehebrücke, ach, und nach Londorf, von Appenborn garnicht zu reden, wo die angestammten Blumen sich wärmen an ihren alten Stellen. Es kommt mir vor, als wäre heuer aller Sommer dort in ihrem heimatlichen frohen Flußthal. In Hessen, sage ich mir jeden Morgen, steht sicher alles in Pracht und Buntheit; bilderbuchhaft fröhlich, als ob ein Vers wäre unter jeder Blume und als ob jeder Vogel einen kleinen symphatischen Reim sagte. - Ist es so?

Wer meint, literarische Traditionen seien in jedem Fall städtische, täuscht sich. In allen ländlichen Räumen gibt es eigene literarische Überlieferungen zu entdecken, waren sie doch für Schriftsteller zu allen Zeiten Rückzugs- und Sehnsuchtsorte, Heimat und Fluchtpunkt. Wer sich für Literatur jenseits der Stadt interessiert, tut gut daran, sich dieser je eigenartigen künstlerischen Traditionen der verschiedenen Landschaften zu vergewissern, es ist die Literatur eines Storm oder Hebbel anderswo zu Hause als etwa die Poesie eines Paulus Böhmer, der den Klang, den Geschmack, die Temperatur seines Oberhessischen Heimatflüßchens Ohm auf ganz eigene Weise besingt.

Gleich aber ist allen, daß die Frage der Literatur an die Natur stets jene nach dem richtigen Leben ist. Historisch wird die romantische Sehnsucht des 19. Jahrhunderts dabei überlagert von den utopischen Entwürfen des 20., zu denen die Künstlerkolonie von Worpswede ebenso zählt wie das Goßfeldener Atelierhaus Otto Ubbelohdes, der nicht zufällig dem Philosophen Martin Heidegger in seiner Marburger Zeit einen existentiellen Anzug entwarf, wie das seine Studenten nannten. Je prekärer unsere Lage in einem Zeitalter wird, das manche schon als Anthropozän bezeichnen, um so dringlicher stellt sich die Frage neu, was ein richtiges Leben mit der Natur zu tun hat, die uns umgibt.

In einem seiner letzten Gedichte aus dem posthum erschienenen Band, der den bezeichnenden Titel No Home trägt, schreibt der 1936 geborene Paulus Böhmer, der im Gutshaus und im großen Garten der Familie in Nieder-Ofleiden aufwuchs:

Einmal, einen winzigen Augenblick lang,
war ich, im Sommer, am Ohmufer liegend, alleine,
dem Geheimnis der Fische nahe und verstand
ihre Sprache, die ein Einverständnis war
und ein Begehren, vice versa.